"Trageerschöpfung - kommt das vom vielen Tragen?"
Ein Begriff, der in Foren rauf und runter diskutiert und kommentiert wird. Schon viele Pferdebesitzer haben mich auch bei der Behandlung darauf angesprochen und besorgt hinterfragt, ob ihr Pferd wohl auch von der Trageerschöpfung betroffen sein könnte. Begründete Sorge oder verordnetes, schlechtes Gewissen, frage ich mich da manchmal. Denn irgendwie führt der zeitgeistige Begriff in die Irre, klingt er doch nach "Dein Pferd hat dich wohl zu viel tragen müssen und ist jetzt erschöpft davon". Sprich, du als Reiter hast deinem Pferd über lange Zeit zu viel zugemutet. Das schlechte Reiter-Gewissen, das wir ja alle kennen, schlägt mal wieder zu. Darüber hinaus stört mich an dem Begriff, dass er so nach unveränderbarem Endzustand klint, der nahe legt, dass sich das Pferd nun von seiner "Erschöpfung vom vielen Tragen" erholen müsse. Und das ist so einfach so nicht richtig und auch wenig hilfreich für die betroffenen Pferde. Denn viele Reiter lassen ihren Pferden dann gut gemeinte Ruhephasen und Trainingspausen zukommen, die die "Trageerschöpfung", die eigentlich eine Muskelschwäche ist, nicht besser machen.
Was ist da eigentlich, sachlich betrachtet, erschöpft?
Auch wenn die Wortkonstruktion "Trageerschöpfung" so klingt, sachlich gesehen ist sie erst mal keine direkt abzuleitende "Erschöpfung vom Tragen eines Reiters", sondern bezeichnet eine bestimmte Muskelschwäche, die sich aus der besonderen Anatomie des Pferdes und unzureichenden Trainingsreizen ergeben kann:
Das Pferd als Vierbeiner trägt seinen Rumpf (Wirbelsäule, Rippen, Brustbein, Organe) zwischen den Vorderbeinen und muss ihn hier gegen die Schwerkraft stabilisieren. Dies erledigt die Muskelgruppe der sogenannten "Rumpf- und "Gliedmaßenträger". Eine anatomische Besonderheit: Das Pferd hat kein Schlüsselbein. Ohne jede knöcherne Verbindung, hält allein diese Muskulatur den Pferderumpf zwischen den Vorderbeinen. Dadurch und durch das ständige Gewicht des Rumpfes ist diese Muskelgruppe immer einer gewissen Gefahr der Überdehnung und damit auch Schwäche ausgesetzt. Der Brustkorb sackt dann in der Tendenz ab. Besonders fatal ist dies verständlicher Weise für das Reitpferd, das zusätzlich noch ein Reitergewicht tragen muss.
Woran erkennt man ein gute Rumpfträgermuskulatur?
Die Rumpfträger sind angelegt wie eine muskuläre Hängematte, in der der Rumpf wortwörtlich "hängt".
In der Bewegung kann sie jedoch wie ein elastisches Sprungtuch arbeiten: Bei jedem Schritt, z.B. im Trab des Pferdes, federt sie das Gewicht des Rumpfes (und des Reiters) in der Stützbeinphase ab, nimmt in der Dehnung kinetische Energie auf und "katapultiert" dann den Rumpf wieder mit Muskelkraft nach oben.
Hat das Pferd eine gut trainierte Rumpfträgermuskulatur, dann macht sich das beim Reiten dadurch bemerkbar, dass das Pferd elastisch "schwingt" und sich in der Tendenz "bergauf" vorwärts bewegt. Sein vorderes Gewicht , inklusive des Reiters, landet in einer gut trainierten und hoch leistungsfähigen Muskulatur.
Wie erkennt man eine Schwäche der Rumpfträger?
Erhält die Rumpfträgermuskulatur keine ausreichenden Trainingsreize, etwa durch Krankheitspausen oder ungenügende Gymnastizierung, gewinnt immer die Schwerkraft:
Die Tragemuskulatur wird überdehnt, verliert an Elastizität und Tragkraft.
Der Rumpf sackt zwischen den Schultern nach unten - zu erkennen an einem relativ niedrigen Wiederrist bei höher erscheinenden Schulterblättern
Die Wirbelsäule sinkt in die Streckung, zu erkennen am "Hohlkreuz"
Das Pferd "holt Schwung" mit dem Hals, zu erkennen an starker Unterhalsmuskulatur
Das Brustbein senkt sich und kippt in der Folge nach vorne/oben - zu erkennen an einem hervorstehenden Brustbein
Das Pferde "latscht" auf der Vorhand, zu erkennen an einer Bergabtendenz und unelastischen Bewegungen
Was sind langfristige Folgen einer Schwäche in den Rumpfträgern?
Sind die Rumpfträger überdehnt und unzureichend trainiert, verlieren sie ihre Funktion als Sprungtuch. Damit sind sie nicht mehr in der Lage, das Gewicht in der Bewegung elastisch aufzufangen und abzufedern. Statt dessen landen Bewegungsenergie und Gewicht ungebremst in den unteren Etagen der Vorderbeine. Besonders Fesselträger, oberflächliche und tiefe Beugesehne müssen die Bewegung auffangen. Das führt zu Überlastung und Schäden in diesen Strukturen. Die Tendenz zum Hohlkreuz kann zu Wirbelblockaden bis hin zu Kissing Spines führen.
Eine gute Tragemuskulatur dient also der Gesundheit des Reitpferdes und ist damit essentiell. Übrigens, auch das "Rentnerpferd" kann an einer Schwäche der Tragemuskulatur leiden, wenn es einfach zu wenig Bewegungsreizen ausgesetzt ist. Auch wenn diese Pferde kein Reitergewicht mehr tragen, kann eine Schwäche der Rumpfträger gerade für ältere Pferde ganz ähnliche gesundheitlichen Folgen haben, wie für das aktive Reitpferd.
Take-Home:
Verabschiede dich von der Vorstellung , dass dein Pferd eine Trageerschöpfung vom vielen "Tragen" hat. Im Gegenteil: Gutes Reiten trainiert die Rumpfträger. Natürlich müssen schlecht oder gar nicht trainierte Pferde angepasst reiterlich bewegt werden und einem ergänzenden Bodentraining unterzogen werden, um die Muskulatur wieder aufzubauen.
Auf jeden Fall aber ist Bewegung der Schlüssel, nicht übertrieben gut gemeinte Schonung.
Wie immer geht es darum, dein Pferd optimal für seinen Job als Reitpferd zu trainieren, denn es ist ja nicht als Reitpferd auf die Welt gekommen. Und das ist nicht so neu, dass wir neue Wörter erfinden müssten.
In Facebook Gruppen rund um den Begriff der "Trageerschöpfung" kann man sich zum Teil sehr sachlich informieren, jedoch wird in den Diskussionen oft aus einem Trainingsthema, das so alt ist wie das Reiten, eine für mich nicht mehr nachvollziehbare Gewissensbelastung für Reiter herbeigeredet.
Nicht jedes Pferd mit niedrigem Wiederrist leidet an "Trageerschöpfung", genauso wenig jedes Pferd, das sich schwer tut, den Weg in die Tiefe zu finden. Auch einfach im Ganzen schlecht bemuskelte Pferde sollten nicht wie Kranke behandelt werden, sondern mit System ins Training genommen werden.
Wenn du unsicher über den Trainingszustand der Rumpfträger deines Pferdes bist, lass dich von einem erfahrenen Pferde-Physiotherapeuten beraten.
Und inzwischen nicht vergessen: Viel Spaß beim Reiten!
PS: Wenn du anatomische Detailinfos über die Funktion der einzelnen Rumpf- und Gliedmaßenträger nachlesen möchtest, hier eine Übersicht:
- M. serratus ventralis
- M. brachiocephalicus
- M. omotransversarius
- M. trapezius
- M. rhomboideus
- M. latissimus dorsi
- Mm. pectorales
- M. subclavius
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